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Studie

Neonikotinoide bedrohen Biodiversität stärker als gedacht

Das Insektizid Acetamiprid ist für bestimmte Insekten über 11.000-mal giftiger, als die vorgeschriebenen Empfindlichkeitstests, zum Beispiel an Honigbienen, vermuten lassen. Zu diesem Ergebnis kommt eine Studie, in der Forschende der Universität Hohenheim in Stuttgart die gravierenden Folgen dieses Insektizids für Nicht-Zielinsekten aufgedeckt haben.

von Uni Hohenheim/Redaktion erschienen am 27.06.2025
Das Insektizid MospilanSG (Wirkstoff Acetamiprid) ist für bestimmte Weichwanzen über 11.000-mal giftiger als für Honigbienen: so das Ergebnis einer Studie, in der Forschende der Universität Hohenheim in Stuttgart die gravierenden Folgen dieses Insektizids für Nicht-Zielinsekten aufgedeckt haben. © Universität Hohenheim/Jan Erik Sedlmeier
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Die Forschenden untersuchten, welchen Einfluss das Neonikotinoid-Insektizid MospilanSG (Wirkstoff: Acetamiprid) auf Weichwanzen haben kann. Acetamiprid wird weltweit neben anderen Neonikotinoiden eingesetzt, in der Europäischen Union ist es jedoch das einzige Neonikotinoid, das noch für den Einsatz im Freiland zugelassen ist.

Das Insektizid wird durch Sprühen ausgebracht und in Feldkulturen wie Raps und Kartoffeln, in Obstgärten, im Weinbau und in der Blumenzucht insbesondere gegen beißend-saugende Schädlinge eingesetzt. Als Nervengift wirkt es sowohl als Kontakt- sowie auch als systemisches Insektizid, da die Chemikalie von Pflanzen aufgenommen und in ihrem Gewebe verteilt werden kann. Pflanzenfressende Insekten nehmen die Substanz dann mit ihrer Nahrung auf.

Die Ergebnisse alarmieren, weil sich das Neonikotinoid auf die Weichwanzen als Beispielinsekten um ein Vielfaches verheerender auswirkte, als Zulassungstests vermuten lassen. „Insektizide sollen gezielt gegen Schädlinge wirken und Nützlinge möglichst schonen, deshalb wurden Neonikotinoide zum Beispiel auch an Honigbienen getestet“, erläutert Jan Erik Sedlmeier. „Unsere Versuche zeigen jedoch, dass das Insektizid Acetamiprid für manche Weichwanzen über 11.000-mal toxischer ist als für Honigbienen.“

Zu diesem Ergebnis kamen die Forschenden durch Laborexperimente mit dem sogenannten LD50-Vergleich. Dabei wird untersucht, welche Dosis notwendig ist, um 50?% der Individuen einer Population zu töten.

Auch im Feldexperiment reagierten alle vorkommenden Weichwanzenarten sehr empfindlich auf das Neonikotinoid. So nahm ihre Anzahl nach nur zwei Tagen in Flächen, die Feldränder von behandelten Flächen simulierten, um bis zu 92?% ab. „Dabei werden an den Feldrändern geschätzt nur zwischen 30 und 58?% der Pestizidmenge im Feld erreicht – Konzentrationen, die normalerweise nicht als derart gefährlich angesehen werden“, betont Jan Erik Sedlmeier.

Langfristige Gefährdung von Lebensräumen und ganzen Insektenpopulationen

Selbst bei Weichwanzen, die mit den Insektizid gar nicht unmittelbar in Berührung kamen, beobachteten die Forschenden starke Einbußen, wenn sie die Insekten auf Wirtspflanzen setzten, die zwei Tage zuvor mit nur 30?% der üblichen Insektizidkonzentration behandelt worden waren. Die Zweifleck-Weichwanze überlebte in diesem Szenario gar nicht.

Darüber hinaus konnten die Forschenden Rückstände des Wirkstoffs bis zu 30 Tage nach der Anwendung in den Geweben der behandelten Pflanzen nachweisen. Der Doktorand hebt die Problematik hervor: „Eine ständige Einwirkung von Neonikotinoiden kann somit nicht nur ganze Populationen von Weichwanzen drastisch verringern. Sie kann auch die Zusammensetzung von Insektengemeinschaften verändern, indem insektizidtolerantere Arten mit der Zeit dominieren könnten.“

Aktuelle Zulassungsverfahren erlauben keine guten Prognosen

Auffällig war außerdem, dass die Sterblichkeit der Weichwanzen je nach Art stark variierte. Vor allem die kleinste der drei untersuchten Arten, die Zweifleck-Weichwanze, reagierte signifikant empfindlicher auf das Insektizid als die beiden anderen Arten. Ein weiterer alarmierender Befund: Bei zwei der getesteten Arten waren die Männchen 20-mal empfindlicher als die Weibchen.

„Idealerweise sollen sich moderne Insektizide möglichst zielgenau gegen konkrete Zielschädlinge richten und möglichst gegenüber Nicht-Zielinsekten weniger giftig sein. Die Ergebnisse zeigen jedoch, dass die Empfindlichkeit gegenüber Insektiziden selbst zwischen eng verwandten Arten sehr stark variiert. Wie giftig ein Insektizid gegenüber Nicht-Zielinsekten tatsächlich ist, lässt sich daher auf Basis vereinzelter Empfindlichkeitstests nur schwer vorhersagen“, fasst Jan Erik Sedlmeier seine Ergebnisse zusammen.

Hinzu kommt, dass die Giftigkeit für pflanzenfressende Insekten derzeit noch gar nicht überprüft wird: „Das derzeitige EU-Registrierungsprotokoll für Insektizide verlangt zwar Empfindlichkeitstests für eine begrenzte Anzahl von Nicht-Zielinsekten, wie die Honigbiene, parasitische Wespen, Raubmilben und einzelne Vertreter von Käferfamilien. Doch ausgerechnet pflanzenfressende Insekten wurden weitgehend vernachlässigt, obwohl sie weltweit etwa 50?% aller Insektenarten ausmachen“, bedauert Prof. Dr. Petschenka.

Grundlegende Fragen zur Risikobewertung

Angesichts der Verlängerung der Zulassung von Acetamiprid bis 2033 fordern die Forschenden eine grundlegende Reform des europäischen Risikobewertungssystems. Ein wichtiger Schritt ist die Ausweitung der Empfindlichkeitstests auf weitere Insektengruppen, darunter besonders auf pflanzenfressende Insekten.

Darüber hinaus müsse der bisherige Unsicherheitsfaktor in den Empfindlichkeitstests von 10 auf mindestens 1.000 angehoben werden, um artspezifische und geschlechtsspezifische Unterschiede angemessen zu berücksichtigen. Ebenso sollten Feldränder verstärkt geschützt werden, um die für das ökologische Gleichgewicht entscheidende Biodiversität langfristig zu sichern.

Besonders problematisch ist aus Sicht der Forschenden, dass in Deutschland Feldränder mit einer Breite von weniger als drei Metern aktuell nicht als schützenswerte Habitate gelten, obwohl sie als wichtige Rückzugsorte innerhalb moderner Agrarlandschaften fungieren. „Dadurch bleiben zahlreiche Lebensräume dieser Insekten ungeschützt, obwohl sie einer hohen Belastung durch Abdrift und Oberflächenkontamination ausgesetzt sind“, schließt der Experte.

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